Inhalt aus dem Archiv der Mitteldeutschen Zeitung

Eisenbahnnostalgie

 

Die „Fliegende Schlesierin“ in Jessen

 

19.11.2015 18:17 Uhr

An der äußerst gepflegten Lokomotive vom Typ 18201 sind viele interessante Details zu entdecken, hier die Steuereinheit für die drei Zylinder.  (BILD: KUNZE)
An der äußerst gepflegten Lokomotive vom Typ 18201 sind viele interessante Details zu entdecken, hier die Steuereinheit für die drei Zylinder. (BILD: KUNZE)

 

VON H.-DIETER KUNZE

Die legendäre Dampflokomotive vom Typ 18201 fuhr als Sonderzug von Wittenberg nach Prag und machte dabei auch in Jessen Halt. Für Eisenbahnfreunde gab es viel zu bestaunen und zu erleben. Sogar das Jessener Heimatlied wurde angestimmt.

 

JESSEN. Nein, sie kommt nicht einfach nur so daher. Sie erscheint. Souverän, beinahe majestätisch, topfit und voller Energie. Ihr chromoxidgrünes, makellos gepflegtes Outfit und das schier unendlich hohe Fahrgestell ganz in Rot bringen jedes Männerherz zum Rasen. Ihre 54 Jahre sieht man der „Fliegenden Schlesierin“ überhaupt nicht an. So wird sie ehrfurchtsvoll genannt, die schnellste noch betriebsfähige Dampflok der Welt mit der schnöden Typenbezeichnung 18201. Kürzlich machte sie, von Wittenberg und mit Halt in Elster kommend, Station in Jessen. Das Reiseziel war Prag, die „Goldene Stadt“ an der Moldau. Es war nicht der erste Halt der 18201 hier an der Schwarzen Elster.

Viele Dampflok-Freunde im Raum Jessen

Eine Traube Fahrgäste, darunter mehr als 40 IFA-Freunde, wartete auf dem Bahnsteig bereits auf den Sonderzug. Es dauerte schon eine Weile, bis alle in die historischen Reisezugwagen der ehemaligen Deutschen Reichsbahn (DR) der DDR eingestiegen waren. „Es ist für mich ein Phänomen, wie viele Dampflok-Enthusiasten es vor allem im Raum Jessen, aber auch in Wittenberg und Elster gibt“, wundert sich immer wieder Andreas Knaak. Er ist Vorsitzender des Vereins Sonderzugveranstaltungen Chemnitz (SVC) und organisiert mit Helfern die Fahrten mit dem Sonderzug zu den schönsten Zielen. „So etwa ein Jahr im Voraus wird mit den Planungen begonnen. Es ist immer wieder ein immenser Organisationsaufwand“, stöhnt er zwar, aber es macht Knaak und seinen Vereinsfreunden auch einen Riesenspaß. Vor allem, wenn ihnen begeisterte Fans auf die Schultern klopfen und die Chemnitzer immer wieder loben und auf die Schultern klopfen: „Das habt ihr wieder toll gemacht!“

Lokomotivführer sind rar

Die Betreuung des Zuges erfolgt ausschließlich ehrenamtlich durch SVC-Mitglieder, inklusive des Speisewagens der ehemaligen Mitropa. Auch die Lokomotivführer sind „Leiharbeiter“ und werden deutschlandweit gesucht. Denn Fachleute mit den typischen Schirmmützen und vor allem der gültigen Lizenz sind rar. Kohleschippende Heizer braucht die Lok 18201 nicht, der Dampf wird nach der Rekonstruktion im Jahr 1967 im Kessel durch Schweröl erzeugt.

Dieter Quinque spielte auf der Sonderfahrt nach Prag im Salonwagen das Jessener Heimatlied.  (BILD: KUNZE)
Dieter Quinque spielte auf der Sonderfahrt nach Prag im Salonwagen das Jessener Heimatlied. (BILD: KUNZE)

An Bord des Sonderzuges herrschte wie immer eine ausgelassene Stimmung. Einige zogen fasziniert die oberen Fensterteile herunter, ließen sich den Fahrtwind um die Nase wehen. Zu Reichsbahn-Zeiten war das ganz normal, heutzutage reist man meist recht steril in klimatisierten Waggons. Beim oft recht langen Marsch zur Mitropa ging es über scheppernde, stählerne Riffeltrittbleche. Weißer Dampf für die Heizung zischte, nebelte die Reisenden fast ein. Eisenbahnromantik pur eben. Ebenso in der Mitropa. In der engen Kombüse zauberten die Köche leckere Gerichte. Kellner, wesentlich freundlicher als so mancher ehemalige DDR-Kollege, servierten sie an Tischen, alle mit Fensterblick auf die vorbei huschenden Landschaften. „Eine Fahrt durch den „Goldenen Herbst in die Goldene Stadt“, hatten die Veranstalter angekündigt. Sie hielten Wort, lediglich im Elbsandsteintal waberten Nebelschwaden um den Zug.

Für das leibliche Wohl war gesorgt

Unmittelbar an die Mitropa gekuppelt lud ein Salonwagen die Gäste zu Getränken und einem Imbiss an die Stehtische. „Dieser Waggon ist unser ganzer Stolz. Früher verkehrte hier ,Raketen-Heinz’ mit seiner militärischen Gefolgschaft“, erklärte grinsend Andreas Knaak. Gemeint war Heinz Kessler, der einstige DDR-Verteidigungsminister und langjährige General der Flieger- und Raketentruppen der Nationalen Volksarmee (NVA).

Mit musikalischer Untermalung auf den Weg nach Prag

Im Wagen stand auch ein Klavier, dem ein angemieteter Pianist stimmungsvolle Melodien entlockte. Gern machte er aber eine Pause, als Dieter Quinque aus Jessen um die Tasten bat. So erklang auf der Fahrt nach Prag das bekannte Heimatlied von Ludwig Hosch; vor allem die Schlachtenbummler vom Elsterstrand waren restlos begeistert.

Immer wieder imposant ist die legendäre Dampflokomotive 18 201.  (BILD: KUNZE)
Immer wieder imposant ist die legendäre Dampflokomotive 18 201. (BILD: KUNZE)

Der Sonderzug mit der 18 201 schlängelte sich ohne größere Wartezeiten über den Schienenstrang. Knaak und seine Truppe hatten wieder einmal ganze Arbeit geleistet. Denn der Zug musste immer wieder zwischen reguläre Bahnverbindungen, die absoluten Vorrang hatten, „eingefädelt“ werden.

Lange Planung im Voraus

Die Planung ist eine wahre Sisyphusarbeit, deren Aufwand ein Außenstehender nur erahnen kann. Und sie ist nicht gerade billig. Denn die befahrenen Trassen müssen von der DB Netzagentur gekauft werden. Auch jeder Halt auf Bahnhöfen kostet. „Das ist unterschiedlich, von Größe und Frequentierung abhängig. Der Halt auf dem Dresdener Hauptbahnhof schlägt ganz schön ins Kontor“, ließ Knaak durchblicken. Aber auch in der sächsischen Metropole gingen noch Fahrgäste an Bord. So ist jede Sonderzugfahrt immer wieder eine Gratwanderung zwischen Kostendeckung und Fahrpreis. Einen technisch bedingten Halt gab es in Decin. Hier warteten tschechische Kameraden mit mehreren Feuerwehren schon auf die imposante Lok. Nicht um den Kessel zu kühlen, sondern um Wasser in den Tender zu pumpen. Wasserkräne sieht man zwar ab und an noch auf Bahnhöfen, aber die tropfen nicht mal mehr. Öl war noch genug im Vorratstank, so dass es weiter mit Volldampf gen Prag ging. Zeit für einen Spaziergang über die Karlsbrücke war allemal drin. Auch für eine Portion Knödel mit Sauerkraut und goldgelbem Staropramen reichte es. Allerdings, original tschechische Lokale machten sich rar zwischen Pizza-Stuben.


Pünktlich ging es dann vom Prager Hauptbahnhof mit schönen Eindrücken einer erlebnisreichen Reise zurück in die Heimat. (mz)